Für die Osnabrücker Volksseele war der Neumarkttunnel ein hochemotionaler Ort, der letztendlich dem städteplanerischen Mainstreamdenken zum Opfer fiel. Der Neumarkttunnel verband die von Verkehrsströmen getrennten Stadtteile und Nebenstraßen, so dass nahezu jeder Osnabrücker irgendwann dort zugegen war. Was dem Berliner sein weitläufiges U-Bahnnetz ist, ist dem Osnabrücker sein Neumarkttunnel gewesen. Hier stieg man ein, dort wurde man rausgespuckt und war dem Ziel seiner Bestimmung einen ganzen Schritt näher gekommen. Er war in seiner Zeit ein starkes Stück moderner Städteplanung. Zumindest bei uns in der Provinz…
Tunnel verbindet Menschen
Er war für viele ein Ort der Begegnung. Mit seinen zahlreichen Läden und Treffpunkten, ob nun am Bierautomat, dem Schallplattenladen oder am sogenannten „Hascher-Brunnen“ immer gab es was zu sehen und geschützt vor dem Wetter kam man ins Reden, bevor man den nächsten Bus nahm oder zu Fuß weiter in die Einkaufsstraßen eilte.
„Der Neumarkttunnel, seine Funktion und Geschichte steht als retrofuturistische Metapher in der Postcorona-Gesellschaft für den elektronischen Musik-Untergrund der Stadt Osnabrück.„
Wazlav Haseufer
In der aktuellen pandemischen Gesellschaft wird es zunehmend schwerer bis unmöglich sich in den seit den 1980er erprobten subkulturellen Begegnungsräumen, wie Konzerten, Happenings und Partys in einen Austausch oder Diskurs zu treten um zum einen über das Eigene zu berichten, aber auch die Ideen und Gedanken des Anderen zu hören, die wiederum das Eigene beeinflussen.
Zoomkonferenzen und virtuelle Konzerte können den kulturellen Diskurs nicht ansatzweise simulieren, geschweige denn ersetzen. Die Produktiven und Künstler agieren aktuell isoliert und separiert, genauso wie die Zuschauer und Zuhörer auf sich alleine gestellt sind.
Ein kollektives Erlebnis jenseits der Bildschirme gibt es seit Monaten nicht und wir müssen befürchten, dass die tradierten Formen des sozial-kommunikativen Austausches sich unumkehrbar verändern werden und zwangsläufig neue Formen des miteinander Gestaltens, zu kommunizieren und gemeinsame Erlebnisse zu generieren gefragt sein werden.
Es müssen Brücken und Tunnel gebaut werden, damit wir wieder aus der Isolation heraus zusammen finden können und sichtbar werden. Eine Zusammenstellung der zeitgenössischen Osnabrücker Untergrund Elektronik zu erstellen soll ein Versuch sein.
…der Neumarkttunnel – Leben und Sterben:
Der Neumarkt als zentraler Platz des Osnabrücker Stadtteils Innenstadt dehnt sich in Ost-West-Richtung zwischen der Altstadt im Norden und der Neustadt im Süden aus.
In westlicher Richtung schließt die Straße Neuer Graben an, an der sich unter anderem das Schloss Osnabrück und der Ledenhof befinden.
Aus der Nordrichtung verläuft die als Fußgängerzone genutzte Große Straße aus der Altstadt zum Platz. Als südliche Fortsetzung der Großen Straße befindet sich hier die in die Neustadt hineinlaufende Johannisstraße.
An östlicher Seite verlässt die Wittekindstraße den Platz in Richtung Berliner Platz und überquert hier die Hase.Am 14. Dezember 1964 wurde eine Fußgängerunterführung, der Neumarkttunnel, unter dem Platz eröffnet. Dadurch sollten Fußgänger vom Fahrzeugverkehr getrennt werden und konnten den Platz nur noch unterirdisch queren.
Am 26. November 1977 wurde eine Erweiterung des Tunnels in Betrieb genommen. Ab 2001 konnte der Neumarkt wieder oberirdisch über eine neu eingerichtete Fußgängerfurt gequert werden. Die Passage wurde im Jahr 2005 modernisiert und umgebaut, war danach jedoch nicht mehr durchgängig begehbar und die im Tunnel gelegenen Ladenlokale standen wegen der verringerten Passantenzahl teilweise leer.Aufgrund von baulichen Mängeln und hohen Betriebskosten wurde im April 2011 zunächst der westliche, 2012 auch der östliche Teil des Tunnels geschlossen. Am 10. Juli 2012 beschloss der Rat den Abriss und die Verfüllung des Bauwerks.
https://de.wikipedia.org/wiki/Neumarkt_(Osnabr%C3%BCck)
Abgerissen und verfüllt
Dies war der endgültige Auftakt des Niedergangs der Osnabrücker Innenstadt rund um den Neumarkt, dem Herzen der Kaufmannsstadt mit seinem bis dahin reichhaltigen Angebot von inhabergeführten Einzelhandelsgeschäften. Mittlerweile gleicht der Neumarkt und seine angrenzenden Einkaufsstraßen einer dystopischen Filmkulisse. Infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels im Einzelhandel setzte in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ein fortwährender Niedergang und Bedeutungsverlust ein.
Untergrund-Musik
Für Jugendliche war der Tunnel immer auch ein Treffpunkt. Schon in den Anfangsjahren wurde debattiert, ob Halbstarke die Sicherheit gefährden. Später war es der Brunnen, an dem sich junge Leute aufhielten. Und bei JPC erstanden viele ihre erste Schallplatte. Ältere Semester saßen im Café Coppenrath und brauchten nur abzuwarten, bis jemand Bekanntes vorbeikam, so frequentiert war die Passage.
NOZ 08.06.2013
Elektronische Musik in Osnabrück
Elektronische Musik in Osnabrück hat eine lange Tradition, beginnend mit dem elektronischen Kraut Rock der 70ger Jahre und der „Tape Szene“ der frühen 80ger Jahre: New Wave, Punk und Neue Deutsche Welle. Eng damit verknüpft war immer auch die technische Komponente, die Entwicklung und vor allem die Verfügbarkeit von technischen Innovationen, die Musikproduktionen zu hause ermöglichen (Synthesizer, Sampler, sowie später Computertechnik).
Heute ist der Bedroom Producer zum Standard in der Musikproduktion geworden.
Aus dem Fachbereich Musik der Uni Osnabrück ging Ende der Achtziger Jahre in Gestalt des Klangart Festivals eine massive Innovation für Osnabrück hervor, die sowohl die Superlativen des Genres, als auch seine Grenzbereiche geradezu definierte.
Hier sei neben der Anschaffung technischer Ressourcen vor allem das mehr als einflussreiche Live Programm der 4 Festivals zu nennen.
Klassiker des Genres gaben über Jahre regelmäßig teils außergewöhnliche, mitunter exklusive Konzerte. Hier sind sowohl Pioniere der Elektronischen Musik wie Oscar Sala, Holger Czukay oder Klaus Schulze zu nennen.
Aber auch die Grenzbereiche wurden abgesteckt, wie Auftritte von Karl Heinz Stockhausen zu Klassik, Kraftwerk zu Pop, den Einstürzenden Neubauten zu Industrial oder Tangerine Dream zu Rock zeigten. In Osnabrück entstanden zahlreiche Elektronische Bands und Projekte in dieser Tradition.
Man experimentierte und ergänzte sich gegenseitig, ohne eine große Öffentlichkeit, beeinflusste aber nachhaltig die Techno- und Clubszene (Beispiel Electrotwist).
Diese lebendige Szene ist der Nährboden für die auf diesem Sampler befindlichen Bands/Projekte, die zum Großteil bis heute bestehen. Sie bilden ein eigenständiges Genre, das sich bis heute vielfach modifiziert hat, jedoch in den Postcorona-Grenzen kaum erkennbar abbildet.
Vinyl bleibt!
Dem weithin sichtbaren Verfall steht ein breites Angebot an Kultur und Musik sowie bedeutende Zeugnisse Osnabrücker Kulturgeschichte gegenüber.
Dies gilt es sichtbar zu machen. Dazu dient die Zusammenstellung des zeitgenössischen Osnabrücker elektronischen Untergrunds in Form eines Vinyl-Samplers.
Also Format wurde ganz bewusst mit Vinyl ein sinnlich greif- und erfahrbares Format gewählt.
Im Gegensatz zum flüchtigen, nicht fassbaren digitalen Format der CD oder des Streamings: Vinyl ist robust, bleibt und überdauert!
„Softeis! JPC-Musikladen! Kiosk! Käsefachgeschäft! Suppenladen! Kinoplakate am Rolltreppenaufgang (Universum, Rosenhof). Der „Haschbrunnen“ mit den Plexiglasröhren! Es gibt so viele schöne Erinnerungen, so viele unterschiedliche Gerüche, so tolle Jugenderlebnisse aus den 70ern/80ern, dass auch ich dem Tunnel Tränen nachweine.“
Tobias Sunderdiek, NOZ 08.06.2013
TRACK LISTING:
MiDi BiTCH – Tunnelblick
Kicky Ring – Raketen Jesus
Das Original Haseland Orchester – Landpartie
Han Jammer – Kontaktverlust Petit Rechain
Ficht – Nachtficht
Die Brägen Band – Submilbe
Von Korf – Autobahn nach Amsterdam
Leitfrequenz – Elektromärchen Part 3. – Hoppla
poesi fysik – demagnetisierte generation III
Sankt Otten – Schicht am Ende des Tunnels
Plasma – Pneumum
Poison Dwarfes – Farewell